(Vor-)Leser: Du bist ich und du bist es auch nicht.[1]
Zuallererst möchte ich dem Autor[2] danken, mir die Möglichkeit zu geben, diese Geschichte bzw. diesen Text zu lesen, meinem Publikum vorzulesen, meine ich.
Welchen Text? – Diesen Text! Das hier ist bereits der Text. Jedes idiotische Wort, welches ich genau in diesem Moment verwende. Doch das ist nicht alles. Ich, der erbärmliche, kümmerliche, unterlegene Erzähler[3], der ein Feigling ist, entschuldige mich, den Text falsch zu überliefern. Ich meine, ich missverstehe und miss-erzähle die Geschichte.
Das ist nicht die Schuld des Autors. Und das sage ich nicht, weil der Autor das so will. Es ist mein freier Wille. Glaubt mir.
Ich erzähle Nonsens.
Ich glaube, ich sollte die Geschichte, welche schon längst begonnen hat und in Richtung zweiter Akt steuert, eindeutig nochmal von vorne erzählen, um des Autors Genie gerecht zu werden, doch werde ständig vom Drang unterbrochen, meinen freien Willen in den Vordergrund zu drängen.
Wie narzisstisch. Doch ich bin, was ich bin. Sie sind, was Sie sind. Entschuldigen Sie die Verwendung von abgegriffenen, abgestandenen, abgrundtief affektierten Phrasen. Ich skandiere und protze, weil ich dachte, ich könnte vielleicht jemanden beeindrucken. Aber weiter im Text, weiter mit der Geschichte. Ich werde in den nächsten fünf Minuten nicht mehr allzu viel über mich sprechen, doch ich werde es sicherlich tun.
Vielleicht sollte ich von vorne beginnen. Löschen. Nein. Das würde mich selbst und mein Publikum verwirren. Ich bin dumm. Ich bin dumm wie mein Publikum. Spaß. War nur ein Scherz. Das Publikum hat einen höheren Wert auf der Vollidioten-Skala, aber Sie sind glücklicher als ich.
Wie voreingenommen, wie provokant und simpel. Wie ich versucht habe die Aufmerksamkeit des Publikums zu ergaunern und vom Autor abzulenken. Aber wie Sie sehen, ist mir das nicht gelungen.
Ich sollte nicht davon reden. Ich bin heute ohnehin nicht motiviert, entschuldigen Sie. Vor allem, wenn jemand etwas von mir erwartet. Ich mag es nicht, mich bedrängt zu fühlen. Es ist mein freier Wille. Nichtsdestotrotz. Ich bin hier, um zu erzählen. Oh, einen Moment bitte. Mein Telefon klingelt. Jemand ruft mich an. Es ist Jon Doe, ein guter Freund, bitte warten Sie eine Sekunde.
„Was geht, Bruder. Ich bin’s.“
„Ah, hey, oh. Warum hast du dich nicht früher gemeldet?“
„Ich … ich.“
„Nein, nicht du. Es geht hier um etwas Größeres, als nur dich. Du bist auch nur eine Figur, und wenn du Pech hast, eine Nebenfigur.“
„Ja, aber.“
„Nichts da ja aber. Wenn du das nächste Mal kein Wort von dir hören lässt, bist du den Job los. Du bist leicht ersetzbar.
„Ok, verstanden.“
„Keine Widerrede.“
„Hab‘ ich doch gar…“
„Pscht!“
„Aber…“
„Pschhhhh…t! Komm einfach zur Arbeit.“
Am nächsten Tag kam Jon Doe eine halbe Stunde zu früh ans Set. Er sah aufgedunsen aus, seine Augen waren auf die Größe von Rettungsringen geschwollen, als hätte er die Nacht wieder durchgesoffen. In Wirklichkeit hatte er pausenlos geweint, nicht, weil er Angst gehabt hatte, seinen Job zu verlieren. Nein. Er wollte keine dieser belanglosen Nebenfiguren sein.
[1] Jedes Wort darf gerne durch ein anderes ersetzt werden.
[2] Ich verzichte auf die allgemein vorherrschende Geschlechtertrennung, denn in meiner Vorstellung (oder der, die mir diktiert wurde) ist der Autor ein Mann, so wie Gott in meiner Vorstellung auch am ehesten ein Mann ist, wenn man ihn personifizieren würde. Jedes andere Geschlecht darf sich aber auch gerne angesprochen fühlen.
[3] Hier darf sich die weibliche (Vor-)Leserin eingeladen fühlen, ihr Geschlecht zum Ausdruck zu bringen. Nur zu Sicherheit, denn es könnte durchaus sein, dass man der Frau ihr Geschlecht nicht ansieht. Geschlechterneutrale Menschen dürfen hier gerne den Artikel des Neutrums verwenden oder einen neuen erfinden.